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Daumenregeln im Alltag

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Wie entscheiden wir eigentlich im Alltag? Man könnte meinen, wir würden alle Fakten rational gegeneinander abwägen, gründlich analysieren. Zumindest gilt das als professionell. So erzählen es auch die Betriebswirtschaft und diverse Prozess- und Projektmanagementstandards. Der Alltag sieht aber gänzlich anders aus. Opulente Analysen sind eher die Ausnahme. Stattdessen arbeiten wir mit Daumenregeln. Das ist alles andere als faul. Hinter Daumenregeln steckt viel Erfahrung. In diesem Artikel geht es um Daumenregeln aus meinem Projektalltag.

Daumenregeln für den Projektalltag

Daumenregeln, sind »die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen«[1]

»Heuristik« heißt das im Fachjargon. Aber das klingt nur akademisch schwulstig. »Daumenregel« macht klarer, dass wir grob schätzen.

Auch im Projektalltag nutzen wir ständig Daumenregeln. Vor allem im »everyday business«. Da haben wir keine Zeit, die volle Bandbreite der Analysen auszurollen. Wir entscheiden schneller. Nachfolgende Tabelle fasst Daumenregeln zusammen, die ich tagtäglich im Projektalltag verwende und die sich für mich bewährt haben. Ich aktualisiere die Tabelle regelmäßig.

Daumenregel Schätzt ab: Beispiel
An den Taten sollst du sie erkennen Was wir tun und was wir sagen, sind häufig zwei verschiedene Dinge. Die wahre Intention einer Person spiegelt sich in den Taten wider - und nur in seinen Taten. Die Projektleitung schwört das Team auf Fehlertoleranz ein. Wenn Fehler auftreten, wird der Schuldige gesucht. Tat ≠ Gesagte.
Wem du im Kleinen nicht vertrauen kannst, dem vertraue nicht im Großen Die Integrität einer Person zieht sich durch alle Lebenslagen. Wer sich bei scheinbar unwichtigen Dingen schlecht verhält (z.B. ungerecht, ausgrenzend), der verhält sich erst recht so in kritischen Situationen. Ein Kollege behandelt den Hausmeister geringschätzig. Vermutlich macht er das auch mit anderen Kollegen.
Gute Dinge überdauern die Zeit Wie gut eine Idee, ein Gedanke, eine Methode, ein Verfahren oder sogar eine Organisationsform ist, kann man an dessen Alter erkennen. Bsp.: Die Kirche hat 2.000 Jahre überlebt. Nur hierarchische Organisationsformen bauen Flugzeuge oder Autos. »Moderne« Organisationsformen wie agil oder Scrum haben auch nach fast 25 fast Jahren nichts dergleichen erzeugt.
Vertraue niemandem, der nichts zu verlieren hat (kein Skin-in-the-Game) Empfehlungen, Beratung und Dienstleistungen sind vertrauenswürdiger, wenn die zuständige Person aufgrund mangelhafter Service etwas zu verlieren hat. Berater, die keine Strafe für Fehlberatung zahlen müssen, empfehlen das, was ihrem eigenen Weltbild entspricht, z.B. Scrum anstatt V-Modell für die Systementwicklung.
Kann ein Blackbox-Test aus der Anforderung abgeleitet werden? Ergebnis der formalen Review-Checkliste, ob die Anforderung, atomar, eindeutig, verifizierbar, widerspruchsfrei ist. »The system should be acoustically unobtrusive«, lässt sich nicht testen -> akustisch unauffällig lässt zu viel Interpretationsspielraum und hängt maßgeblich vom Testaufbau ab.
Führt ein Einfachfehler zum Systemausfall? Ergebnis von formalen Sicherheitsanalysen wie FMEA, FTA, Signal- und Kontrollflussanalysen. Der Temperatursensor misst die Temperatur zu niedrig. Das System kann überhitzen. Es braucht eine Diagnose und/oder Redundanzen.
Wie gut kennen wir uns mit der Technologie aus? Ergebnis der systematischen Abschätzung des Risikos nach Schaden und Auftreten (und Beherrschbarkeit). Risiko = S × A × B. Die Temperatur des Stators wird nicht mit dem NTC gemessen, sondern mit einer künstlichen Intelligenz geschätzt. Da man das Verfahren nicht kennt, ist das technische Risiko sehr hoch.
Neues so früh wie möglich umsetzen Ergebnis der Priorisierung der Aufgaben nach Risiko, Komplexität oder Kundennutzen. Der neue Algorithmus läuft prototypisch parallel zum konventionellen Algorithmus mit, um seine Fehleranfälligkeit zu ermitteln.
Aufwand = Bauchgefühl × 3
Ergebnis der Aufwandsschätzung mit formalen Methoden, wie Funktionspunkte, Delphi, Fibonacci.

Der Programmierer schätzt 5h Aufwand. Er muss aber mit seinen Kollegen die Schnittstellen abstimmen und formal prüfen. Ggf. muss er den Code anpassen und neu integrieren. Den ganzen Zusatzaufwand hat er nicht bedacht: 15h = 3 × 5h = 5h Codieren + 10h Abstimmen.

Wenn es schön aussieht, fliegt es auch. Ein Flugzeug, das bemerkenswerte Flugeigenschaften hat, sieht meistens auch schön aus. Übertragen auf die Entwicklung: Wenn Entwürfe schön aussehen, sind sie vermutlich mit hoher Sorgfalt erstellt worden. Das Blockschaltbild der Hardware ist besonders aufgeräumt und lesbar dargestellt. Darin spiegelt sich das Anliegen des Entwicklers, für Klarheit zu sorgen.
Ist der Entwurf elegant? Die Qualität eines Lösungsentwurfs. Elegant ist, was bereits existierende Komponenten geschickt kombiniert. Für hochautomatisiertes Fahren wird der Antrieb durch die gleichen Signale wie beim konventionellen Fahren angesteuert. Es braucht keine neuen Signale.
Kompliziert ausgedrückt heißt nicht verstanden In der Einfachheit liegt die Kraft. Wer Dinge nicht einfach ausdrücken kann, hat meistens das Problem nicht kapiert. Berater reihen unverständliche Buzzwords aneinander, z.B. wie im Artikel »Komplexität entschlüsselt« erläutert.
5min Regel Erledige noch heute, was in 5min Regel erledigt werden kann. (Es kommt nicht exakt auf die 5min an.) Ein Kollege fragt per Mail nach einem Dokument. Den Link auf das Dokument kann ich in 2min suchen und verschicken. Die Mail muss ich nicht als ToDo (⇒ Inbox Zero) markieren.
Inbox Zero

Alle Posteingänge (Inbox) aus Mail, Chat, Tickets, etc. sollten am Ende des Tages nach dem nächsten Schritt abgearbeitet sein, z.B.

  1. Arbeite sofort ab (⇒ 5min Regel)
  2. Markiere und plane die Aufgabe als ToDo
  3. Delegiere die Aufgabe an die richtige Person
  4. Löschen / archivieren
Mein Posteingang im Outlook ist am Abend leer. Alle Mails sind entweder direkt abgearbeitet oder für die weitere Bearbeitung eingeplant.
Gemacht wird, was im Kalender steht

Blocke im Kalender Zeit für konkrete Aufgaben. Oder: Was nicht im Kalender steht, ist prädestiniert dafür, nicht bearbeitet zu werden.

Im Projekt jagt eine dringende Aufgabe die nächste. Ich blocke meinen Kalender trotzdem für ganz konkrete Aufgaben und konzentriere mich während dieser Zeit nur auf diese Aufgabe.

Warum Daumenregeln besser sein können als Analysen

Warum funktionieren Daumenregeln überhaupt so gut? Nehmen wir als Beispiel ein Auto. Wenn von der Seite ein Auto kommt und der Winkel konstant bleibt, wird das Auto uns rammen. Dafür braucht unser Gehirn nicht ständig komplizierte Differenzialgleichungen lösen.[2] Wir wissen, es ist so. Es wäre aber falsch zu sagen, das Gehirn wäre ein Supercomputer, das Differenzialgleichungen im Unterbewusstsein löst. Nein, wir haben lediglich wiederholt erlebt, dass das mit dem Winkel stimmt. Das reicht aus. Komplizierte Berechnungen haben keinen höheren Aussagegehalt.

Deshalb beschäftige ich mich z.B. nicht mehr mit der opulenten Forschung über gesunde Ernährung. Meine Daumenregeln »iss nichts, was Uroma nicht als essbar erkennen würde« und »möglichst grün Farbe« reichen vollkommen aus. Die Wissenschaft kann keine besseren Handlungsempfehlungen aussprechen. Die machen nur einen riesigen statistischen Zinnober (Beschäftigungstherapie?), der meinen Alltag unnütz verkompliziert.

Daumenregeln vereinfachen das Leben - und zwar zulässig

Erstens kann ich mir Daumenregeln gut merken. Zweitens, spare ich mir so aufwändige Tätigkeiten wie Vergleiche, E-Nummer entziffern, Kalorien zählen. Drittens, ist mein Essen nicht um die halbe Welt gereist ist. Uroma kannte keine Papaya, Chiasamen oder Avocado.

Nicht zu vergessen: In manchen Belangen schneiden Daumenregeln besser ab als aufwändige statistische Modelle ab, z.B. bei Investments oder Funktionspunktschätzungen. Solche Regressionsanalysen schreiben zu strikt die Vergangenheit in die Zukunft fort. Das ist meist falsch. Vielleicht prägen sich relevante Parameter in der Zukunft anders aus als zuvor. Genau deshalb sind Schätzungen mit Daumenregeln teilweise besser. Sie lassen mehr Spielraum und können deshalb zukünftige Abweichungen besser auffangen.

Fazit

Daumenregeln vereinfachen alltägliche Entscheidungen, weil man sie sich leicht merken kann, schnell anzuwenden sind und trotzdem brauchbare Ergebnisse erzielen. Teilweise führen Daumenregeln zu besseren Ergebnissen als aufwändige, formale Analysen.

Wie gut funktionieren Daumenregeln bei Ihnen? Welche Daumenregeln setzen Sie im Arbeitsalltag ein? Hinterlassen Sie das gerne in den Kommentaren.

  1. Gigerenzer, G., & Brighton, H. (2009). Homo heuristicus: Why biased minds make better inferences. Topics in Cognitive Science, 1, 107–143.
  2. Gigerenzer, G. (2008). Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. 1 Auflage. Goldmann, München.

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