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Mythos Management-Kybernetik

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Ein Thermostat erzeugt eine Temperatur, die von außen einprogrammiert wurde. Auch Führungskräfte begehren diesen Mechanismus. Er ist halt sehr einfach: Die Führungskraft legt ein SOLL – ihr SOLL - fest und die Maschinerie des Teams erzeugt das gewünschte Ergebnis. So die Theorie; die Praxis sieht dann doch gänzlich anders aus. Was taugt die Management-Kybernetik? Wo gibt es sie und wo nicht?

Modell der Regelschleife

Die Kybernetik ist aus Analogien zu lebenden Systemen entstanden. Zum Beispiel das Lenken des Autos: Man fährt nie exakt in der Spur, sondern weicht leicht davon ab. Dann lenkt man intuitiv dagegen. Außerdem gibt es Abweichungen in der Umwelt – Kurven, Kreuzungen, Schlaglöcher, Radfahrer – denen wir ausweichen müssen. Wir steuern das Fahrzeug, indem wir den Lenkwinkel regeln. Als allgemeineres Modell sieht das dann so aus:

KLassische Regelschleife
Klassische Regelschleife

Auf dieser Basis – und mit vielen zusätzlichen Details – können wir dann das Lenken dem Auto überlassen. Können wir dieses Prinzip direkt in die Welt von Unternehmen und Geschäftsprozessen übernehmen?

Wo es Kybernetik im Management gibt

In meinem Unternehmen suchte ich einen einfachen und verlässlichen Weg, um Fehler in unserer Buchführung (BuFü) sichtbar zu machen. Schnell sind Soll- und Habenseite vertauscht. Oder man vertippt sich beim Betrag. Sowas fällt nicht auf, weil es sich sauber saldieren kann. Wie will man entdecken, was nicht ins Auge sticht? Die einfache Lösung: Wir vergleichen den buchhalterischen Kontostand mit dem Kontostand von der Bank. Weichen beide voneinander ab, haben wir meistens falsch gebucht. Die Differenz zwischen BuFü und Kontostand ist im Idealfall ‚0‘. Also:

Kontostand BuFü – Kontostand Bank = 0

Wird dieses Kriterium verletzt, müssen wir nacharbeiten. Eingesetzt in obige Regelstruktur:

Regelschleife Geschäftsprozess Buchführung
Regelschleife Geschäftsprozess Buchführung

Die Krux: BuFü und Kontostand sind a) unabhängig und b) IST-Größen. Genau deshalb können sie gegeneinander plausibilisiert werden. Die BuFü entsteht aus Belegen. Der Kontostand entsteht aus Zahlungsströmen, die unsere Bank ermittelt. Durch die Regelstruktur werden Fehler in der BuFü viel effizienter aufgedeckt. Wir könnten natürlich auch jede Buchung manuell doppelt und dreifach analysieren; Stichwort: Review. Auf Dauer ist das eine schlechte Strategie. Es ist langweilig und hat weit weniger Potenzial einen Buchungsfehler aufzudecken. Die Differenz zwischen BuFü und Kontostand zeigt das Vorliegen eines Fehlers direkt an und lässt sich obendrein sehr einfach ermitteln. Mit den Bedingungen a) und b) haben wir dann weitere Konsistenzchecks für die BuFü etabliert, z. B. mittels der Lohnsteuerabrechnung oder gebuchten Stunden in der Zeiterfassung.

Merke: a) unabhängige b) IST-Größen lassen sich miteinander plausibilisieren.

An sich steckt darin aber wenig Neues. Sie und ich machen das im Alltag intuitiv. So durfte ich einst einen jungen Berater bespaßen – Pardon: zusammenarbeiten. Er fakturierte üppig Stunden. Irritierend war nur, dass ihn im besagten Zeitraum weder ich noch jemand anders bei uns vor Ort sah. Zudem zeigte ihn Instagram auf Malle. Klar, was weiß ich schon von Beratung. Zumal sein Chef dazu sagte; „hochwertige Beratung kann der Leihe kaum einschätzen“. Verstörend, ich weiß, hier aber wichtig: die a) unabhängigen b) IST-Größen (Instagram vs. Faktura) wichen deutlich voneinander ab. Und führten zur Korrektur hinsichtlich der Berater.

Ist das nun „Management-Kybernetik“[1]? Nein. Kein Stück. Das ist normale Informationsverarbeitung. Wir könnten auch eine Maschine entsprechend instruieren. Ob eine Maschine (teil-) automatisiert regelt oder wir Menschen manuell, macht keinen Unterschied. Nun, gehört aber Informationsverarbeitung definitiv zum Management. Insofern kann ich mich durchaus durchdringen:

Wo Daten und Informationen der Geschäftsprozesse verarbeitet werden,
können klassische Regelmechanismen vernünftig eingesetzt werden.

Wo es Kybernetik im Management nicht gibt

Kybernetik ist mathelastig. Viele reale Vorgänge in der Technik oder Natur lassen sich vernünftig mit Differenzialgleichungen modellieren. Wie lassen sich damit soziale Vorgänge in Unternehmen beschreiben – und zwar so, dass wir dadurch steuernd, deterministisch durchgreifen können? Da fehlt mit sowohl die Fantasie als auch die Evidenz. Unbeirrt davon, behaupten so manche Berater und (BWL- und Sozial-) Forscher das halt.[1] Da hilft es auch nicht, wenn sie ständig sagen, dass jeder Organismus, jedes Ökosystem, jedes Unternehmen, jede Ökonomie aus komplexen und zirkulär vernetzten Strukturen besteht. Das stimmt. Aber zirkulär vernetzt heißt nicht, dass es gezielt regelbar ist. Was also machen wir mit solchen Modellen? Im Alltag helfen sie uns kein Stück weiter. Der Durchgriff fehlt. Versuchen Sie ein Kind, mit den Worten „du darfst das nicht“ zu regulieren. Was passiert, wissen Sie.

Zudem haben Eingriffe in zirkulär vernetzte Systeme meistens ungeahnte Nebenwirkungen. Beispiel Bug-Tickets: Im Projekt haben sich einige Bug-Tickets angehäuft. Eine Managerin meint, das wären zu viele. Sie ordnet den „burndown“ an. Gefällig schwurbeln Forscher und Berater, »what you measure is what you get!«[2]. Schließlich lassen sich Tickets gut zählen und man kann da ein SOLL mit dem IST vergleichen. Nichts kapiert. Die Bedingungen a) und b) sind verletzt. Es liegt nur eine Größe vor: die Anzahl der Tickets. Es ist dämlich, eine Größe mit sich selbst zu plausibilisieren. Das ist so, als ob ich 100 Euro in kleine Scheine wechseln lasse und die hübsche Kassiererin frage, ob sie mir wirklich 100 Euro zurückgegeben hat. Besser: selbst zählen. Jetzt kann ich plausibilisieren.

Außerdem ist die Regelgröße „Anzahl Tickets“ irrelevant. Ein Bug-Ticket repräsentiert einen realen Bug, ein technisches Problem. Ein technisches Problem heißt, wir hatten einen Denkfehler oder eine Wissenslücke. Die muss man zuerst korrigieren. Wir müssten also irgendwie das notwendige Wissen mit dem aktuell verfügbaren Wissen ausregeln. Wie legt man aber das notwendige Wissen fest, wenn man es noch nicht kennt? Wie erfasst man Wissen überhaupt? Da bin ich überfragt. Trotzdem kommen wir mit solchen Problemen gut zurecht. Durch Lernen und den Umgang mit Ungewissheiten. Anderes Spielfeld; nicht Kybernetik.

Wie wichtig der Fokus auf das Wissen ist, zeigt dann die weitere Entwicklung. Das müßige Ticketzählen wird zum Bumerang. Aufgrund des Drucks von oben schließt das Team eher unwichtige Tickets. Geschlossenes Ticket heißt nicht "Problem verstanden und Ursache abgestellt". Nur die Tickets sind zu. Das Projekt baut technische Schulden auf. Bei der nächsten Erprobung fällt uns alles wieder auf die Füße. Dennoch hat das Team gewonnen: Die Managerin wird auf Abstand gehalten. Den Abstand brauchen wir, um uns um die wichtigen Probleme zu kümmern. Wenn es beim Ticket-Burndown eine Regelschleife geben sollte, dann heißt der bestenfalls „Managerin auf Abstand halten“.

Ich will nochmal verdeutlichen, dass zirkuläre Vernetzung nicht gleichbedeutend ist mit Regelstruktur. Über das Lastenheft übergibt der Kunde seine Anforderungen. Der Lieferant liefert erst Prototypen und später das echte Produkt. Stark vereinfacht:

Regeln Kunden und Lieferant die Lieferungen so ein, dass es keine Abweichung zwischen Kundenanforderung und Lieferung gibt? Das habe ich in den letzten 20 Jahren nicht erlebt. In Wahrheit setzt sich der durch, der mehr Macht hat oder Zeit und/oder Budget für weitere Änderungen sind ausgegangen. Das ist ein Macht- und Verhandlungssystem. Anderes Spielfeld; nicht Kybernetik.

Fazit

Mein Fazit fällt zweigeteilt aus. Ich habe keine Einwände, wenn man Management-Kybernetik sagt und die Verarbeitung von Daten und Informationen von Geschäftsprozessen meint. Dann ist Management-Kybernetik ein konkretes Anwendungsgebiet der Kybernetik.

Wenn Management-Kybernetik heißen soll, dass soziale Vorgänge wie eine Maschine gesteuert werden können, dann muss ich das als Kopfgeburt ablehnen. Das ist eine gefällige Theorie von Beratern und Forschern, die Kontrolle über dynamische Vorgänge in unserem Alltag vortäuschen soll. Ich vermute, Norbert Wiener, der Urvater der Kybernetik, würde mir zustimmen, wenn er sagt:

»Therefore, they [Berater und Forscher, Anm. d.V.] consider […] to extend
to the fields of anthropology, of sociology, of economics […].
From believing this necessary, they come to believe it possible.«
[3]

Bei der Management-Kybernetik ist der Wunsch der Vater des Gedankens.

P.S. Das Geschwurbel von „what you measure is what you get“, wurde schon längst revidiert.[2] Passt halt bestimmten Beratern und Softwareschmieden schlecht in den Kram…

  1. Malik, F. (2008). Strategie des Managements komplexer Systeme: Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme. 10. Auflage. Haupt-Verlag, Bern.
  2. DeMarco, T. (2009), S. 95. Software engineering: An idea whose time has come and gone?, IEEE Software 26(4), 95–96.
  3. Wiener, N. (2019), S. 225f. Cybernetics: or, Control and Communication in the Animal and the Machine. 2. Auflage. MIT Press, Cambridge, Massachusetts.

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Titelfoto von Steve Buissinne auf Pixabay