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»Komplex« entschlüsselt

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Der Umgang mit »Komplexität« ist seit Jahrzehnten im Trend. Management- und Projektberichte, Nachrichten und soziale Medien verweisen immer wieder auf die steigende Komplexität unserer Welt. Was ist damit überhaupt gemeint? In diesem Artikel zeige ich 9 umgangssprachliche Lesarten auf und warum das ganze Komplexitätsgeschwafel das eigentliche Anliegen verschleiert.

Da war es wieder. Nichtsahnend lausche ich dem Projektmanagementseminar (PM), mache Notizen und dann das: »Alles ist schneller, komplexer, chaotischer, unvorhersehbarer!« Da fällt mir fast der Stift aus der Nase. Ich schaue schockiert zur Frau Doktorin und erwarte die Schamesröte in ihrem Gesicht. Stattdessen: Selbstzufriedenheit! Geht’s noch? Die plappert dümmlich und ist zufrieden. Ungeheuerlich.

Natürlich, die Welt ist enger zusammengewachsen. Natürlich ermöglicht das Internet koordinierte Aktionen rund um den Globus. Natürlich verschärfen High-Tech und Low Cost den Wettbewerb. Die grundlegenden Probleme im (Projekt-) Alltag sind aber immer noch die alten. Zu Unrecht wird Komplexität immer wieder auf die Anklagebank gezerrt, wenn etwas nicht gut gelaufen ist. Vorsorglich enthalten Strategiepapiere, Jahresabschlüsse, Projektberichte, Managementratgeber, Vorträge oder PM-Seminare unredliches Gefasel über die ach so schlimmen »komplexen Probleme«.

Was heißt »komplexes Problem«? Und weit wichtiger: Wie handeln? Wenn ich das frage, ist nur so viel klar: Komplexitätstheorie kapieren die Wenigstens. Die, die es kapieren, erklären es meist schlecht. Umgangssprachlich nutzen wir den Begriff »Komplexität« als Codewort für etwas anderes. In diesem Artikel entschlüsseln wir 9 Botschaften, die in "komplex" enthalten sind.

1. Komplex == nicht kapiert

Diesen Sommer hatte ich wiederholt mit Beratern zu tun, die im Projekt Automotive SPICE ausweiten sollten. Die waren schon wie eine Schallplatte. Hier komplex. Da komplex. Dort komplex. (Und A-SPICE löse das, was nur bedingt stimmt.) Ja klar, die Sicherheit eines Elektroantriebs ist nicht einfach zu verstehen. Es gibt sehr viele technische Abhängigkeiten. Wir wollen maximale Verfügbarkeit und Leistung bereitstellen; aber funktionssicher. Schnell verursacht die Lösung für ein Problem ein anderes Problem. Entsprechend groß ist der Diskussionsbedarf zwischen den Fachexperten. Entsprechend verstrickt und unübersichtlich ist die Projektkommunikation. Entsprechend komplex erscheint die Projektorganisation.

Meist gibt es da zwei Lager: Diejenigen, die wiederholt die komplexen Zusammenhänge beschwören, meist Berater. Und diejenigen, die die Probleme konkret beim Namen nennen, meist Entwickler. Selbst, wenn das nur ein »habe ich noch nicht verstanden« ist. Letztlich meinen beide Lager das gleiche:

Wer Dinge als »komplex« bezeichnet,
hat (noch) nicht verstanden, wie es funktioniert.[1]

2. Komplex == universal unlösbar

In der Praxis ist es doch so: Wir Fachexperten werden teuer bezahlt, um knifflige Probleme zu lösen. Wir sind Wissensarbeiter. Nicht wissen, kommt nicht gut an. Nicht wissen, ist wenig salonfähig. Nicht-Wissen wird argwöhnisch beäugt - im harmlosen Fall. Oder es folgen Sanktionen. Stellen Sie sich einen CEO vor, der den neuesten Skandal der Presse mitteilt, und dann ehrlich eingesteht: »Ich habe nicht kapiert, was vorging«. Da blitzt direkt die Guillotine auf. Besser so: »Es sind komplexe Vorgänge.« Plötzlich nicken alle eifrig.

Komplexität impliziert eine gewisse Universalität. Wenn etwas für mich komplex ist, dann ist es für alle komplex. Wenn etwas für den Fachexperten komplex ist, dann ist es für den Normalo erst recht komplex. Diese Eigenheit des Begriffs macht ihn so praktisch. Streng genommen, stimmt das nicht. Komplexität in der umgangssprachlichen Verwendung ist sehr wohl von der Person abhängig. Da gibt es die, die das System verstehen, und alle anderen. Zudem hat der Begriff einen erheblichen Makel:

Wenn das Problem universal komplex ist,
dann ist es auch universal unlösbar.

Vergleichen Sie beide Szenarien:

  1. Problem: Wie löse ich das komplexe Problem XY?
    Lösung: Hmmm, keine Ahnung. Was genau meinst du?
  2. Problem: Ich habe XY noch nicht verstanden. Wie bekomme ich mehr Einsicht?
    Lösung: Kollegen fragen, Training, Schulung, Modellieren, Simulation, Tests, 8D, FTA, ...

Beim komplexen Problem ist unklar, wie wir zur Lösung kommen. Beim Nicht-Verstehen stellt sich erstmal nur die Frage, welcher Art das Nicht-Verstehen ist. Handelt es sich um ein generelles Wissensdefizit, z. B. weil ein neuer Mitarbeiter das Produkt noch nicht gut genug kennt? Dann Produktschulung. Oder ist es ein Bug, dessen Ursache unbekannt ist? Dann eventuell 8D.

Insofern mache ich den eingangs erwähnten Beratern keinen Vorwurf. Sie kennen das Produkt nicht. Sie können nicht verstehen, warum wir dies und das (nicht) tun. Mein Vorwurf erstreckt sich eher auf dieses unsägliche Gefasel über Komplexität. Das bringt uns keinen Schritt weiter und hebt das Problem in die Sphäre der Unlösbarkeit. Wann ist das schon der Fall? Meistens begrenzt uns nur die Restzeit und/oder das Restbudget. Lösen können wir früher oder später fast jedes Problem.

Der Begriff »komplex« verschleiert das eigentliche Problem.
Nennen Sie die Dinge beim Namen: »Nicht verstehen« ist lösbar.

3. Komplex == unschuldig

Dieses präzise Benennen ist natürlich nicht immer sinnvoll. Der besagte CEO wird gut daran tun, bei den »komplexen Problemen« zu bleiben. Oder denken Sie an Verkaufsgespräche: »Hohe Komplexität« rechtfertigt hohen Aufwand. Komplexität kann als höhere Instanz ins Feld geführt werden und braucht keine tiefere Begründung. Wie zuvor ausgeführt: Wenn etwas komplex ist, dann ist es universell komplex und universell unlösbar. Wie kann also jemand schuldig sein, wenn etwas schiefgeht? Niemand hätte das verhindern können, oder vorhersehen können, oder bemerken können, oder beherrschen können…

Es ist in der Regel sozial akzeptiert,
die Schuld auf die Komplexität als höhere Instanz zu schieben.

Wohlgemerkt, heißt sozial akzeptiert keineswegs rechtlich akzeptiert. Ich meine eher die Akzeptanz in der öffentlichen Meinung oder in sozialen Gruppen. Von der Rechtsprechung bin ich zu weit weg. Die ist mir zu komplex ;-)

4. Komplex == nicht verantwortlich

Während sich die Schuldfrage darum dreht, ob und wie jemand für ein vergangenes Ereignis bestraft werden sollte, geht es bei der Verantwortung um das Beheben des Schadens. Schuld ist in die Vergangenheit gerichtet; Verantwortung in die Zukunft.

Analog zur Schuldfrage kann man die Verantwortung von sich schieben. Man muss nur auf die Komplexität der Situation verweisen. Wie kann ich verantwortlich sein, wenn es wegen der komplexen Abhängigkeiten nicht in meiner Hand liegt? Das aber ist eine Pyrrhus-Argumentation: Wer so argumentiert, schiebt vorauseilend die Schuld von sich, falls etwas schiefgeht. Sowas lese ich regelmäßig in Jahresabschlüssen, Strategiepapieren oder Beraterfolien.

Das ist zumindest nicht mein Verständnis von Verantwortung. Als Verantwortlicher kümmere ich mich um das Problem, bis es gelöst ist; unabhängig davon, ob es gut oder schlecht läuft. Verantwortung verknüpfe ich mit dem englischen »commitment«, der Verpflichtung.

Es ist in der Regel sozial akzeptiert,
die Verantwortung mit dem Verweis auf die Komplexität der Situation abzulehnen.

5. Komplex == Kontrollzwang

Als ich noch Angestellter war, wurde ich angezählt, wenn ich die SOLL-Faktura nicht erreicht habe. Was ein Drama. Also nicht für mich, sondern für den Manager, als ich ihm höflich mitteilte, dass er sich sein SOLL sonst wohin stecken könne. Natürlich hätte ich auch auf die gemeine Komplexität verweisen können. Das verschleiert aber:

Komplexität ist immer in unserer Planungs- und Kontrollillusion geboren

Der größte Hebel, um sich der Komplexität zu entledigen: Legen Sie die Vorstellung ab, dass alles exakt nach Plan verläuft und Sie exakt das bekommen, was Sie sich vorstellen. Wir können dann – und nur dann – von Komplexität sprechen, wenn wir mit der Erwartung in die Welt schauen, dass die Dinge geordnet ablaufen. Wohlgemerkt: das ist unsere Vorstellung von Ordnung. Wer schert sich darum? Die Welt sicherlich nicht. Dennoch mögen wir es nicht, wenn unsere Erwartung von Ordnung verletzt wird.

6. Komplex == schlechtes Bauchi-Gefühl

Ein weiteres Verständnis von Komplexität lese ich gehäuft auf LinkedIn, Instagram und anderen sozialen Medien. Da wird auf die ach so belastende Komplexität des Weltschmerzes verwiesen. Ein interessanter Trugschluss: Ja, komplexe Situationen können belasten, weil man etwas nicht versteht. Wir verstehen nun mal gerne. Nicht-Verstehen stresst uns. Also:

Komplexe Situation ⇒ Nicht-Verstehen ⇒ Stressgefühl

In diversen Posts sehen wir dann aber eine andere Logik:

Stressgefühl ⇒ komplexe Situation

Das stimmt natürlich nicht. Wenn ich wegen Termindruck gestresst bin, kann das eine äußerst übersichtliche Situation sein. Die verstehe ich auch. Nix komplex.

Analog dazu sehe ich viele Posts, wo etwas Unliebsames mit der überbordenden Komplexität begründet wird. Allerdings ist die dazu geschilderte Situation alles andere als komplex. Sehr beliebt: Im Projektteam verstehen sich die Beteiligten nicht. Dann werden ganz große Beraterfolien über die Komplexität autopoietischer, sozialer Systeme gemalt. Ja, oder der Bernd hat den Parkplatz vom Jochen eingeheimst… Nix komplex.

Nur weil man etwas nicht mag,
liegt nicht automatisch eine komplexe Situation vor.

7. Komplex == Information Overload

Vor allem die Nachrichten liefern uns fast in Echtzeit Katastrophen, Krisen und Tragödien aus aller Herren Länder direkt aufs Handy. »Die Welt ist so komplex geworden«, heißt es dann. Stopp. Genauer hinschauen. Erstmal fühlt sich das schlecht an (siehe oben). Und unsere Vorstellung von Ordnung wird verletzt (siehe auch oben). Zudem ist das gar keine Komplexität, sondern:

Information Overload: Wir stopfen unser Gehirn mit Junk-Info voll.
Unserem Gehirn wird Komplexität suggeriert, wo für uns persönlich keine ist.

Zählen Sie mit, was Sie wirklich 1) direkt und 2) persönlich betrifft und 3) wo Sie aufgrund der Info aktiv werden müssen. Oh, da komme ich mit weniger als einer Hand aus. Mal ehrlich: Wenn irgendwo in der Welt eine Halle abbrennt, dann wird die Polizei Sie anrufen, insofern es Ihre Halle ist. Nutzlose Info. Inflation? Auch nutzlos. Ihr Geld hätten Sie schon vor Monaten umschichten müssen. Aktienhype? Verpasst, hätten Sie längst kaufen müssen. Der Krieg? Dramatisch. Aber was kann ich tun? In Covid-Zeiten bin ich ohne News durchgekommen. Überall hingen Schilder, die mir die lokalen Regeln mitteilten.

Geschätzt sind mehr als 99% der Infos im Newsticker irrelevant für uns. Was nicht heißt, wir sollten Ohren und Augen vor der Welt verschließen. Nein. Meine Devise: Vor der eigenen Haustüre kehren. Damit kann ich der Welt in meinem Wirkungskreis am meisten helfen. Vor allem brauche ich dafür keinen Newsticker. Sobald man dieses Rauschen abschaltet, verschwindet auch der Eindruck, der ach so schlimmen Komplexität.

Wenn Sie das Rauschen von Medien und Internet abschalten,
verschwindet auch der Eindruck der Komplexität.

8. Komplex == Managementmode

»Komplex« ist offensichtlich alles andere als verständlich. Warum hält sich das ganze Komplexitätsgeschwafel so lange und wird auch noch eifrig wiederholt? Es taugt bestens für Vorträge und Bücher. Komplexität wird seit Jahrzehnten als Managementmode durchs Dorf getrieben. Da gibt es nämlich wunderbar unverständliche Begriffe: Emergenz, Schmetterlingseffekt, Koevolution, Selbstreferenzialität, Autopoiesis. Das Ganze dann garniert mit unübersichtlichen Diagrammen. So kann man beeindrucken, oder? Das entfacht weitere intellektuelle Debatten, Vorträge und Bücher. Nur merkt dann keiner, dass das ein typisches Beratersystem ist, das sich selbst nährt, weil es so unverständliche, glamouröse Begriffe verwendet.

Komplexität als Managementmode bringt uns Praktikern keinen Millimeter Landgewinn.

9. Komplexität lösen == Altbewährtes

Aus meiner Sicht theoretisieren Akademiker über Komplexität des Theoretisierens halber. Der Nutzen für Praktiker ist überschaubar. Denn die Konsequenzen könnten trivialer und altbewährter kaum sein:

  • Ungewiss: Es kommt anders als geplant
  • Achtsam: Bleib sensibel für Abweichungen
  • Flexibel: Passe dein Tun an die neuen Umstände an
  • Grafisch: Visualisiere Vorgänge mit Skizzen oder Modellen
  • Bescheiden: Langfristige Prognosen sind immer Müll
  • Fair: Don’t Shoot the Messenger

Brauche ich dafür das Komplexitätsgeschwafel? Nein. Versteht man das? Vermutlich ja. Kann man damit Bücher und Vorträge verticken? Nein.

Die einfache Methodik im Umgang mit Komplexität habe im Artikel »Muddle Through« erläutert.

10. Fazit

Mit dem Verweis auf »Komplexität« verschleiern wir wirksam die klare Sicht auf Fakten und Tatsachen. Komplexität wird so nur scheinbar erzeugt. Benutzen Sie den Begriff »komplex« sehr sparsam. Benennen Sie die Dinge beim Namen. Dann ist der Weg zur Lösung auch geradliniger. Neun der üblichsten Codierungen, die man umgangssprachlich mit »komplex« meint, habe ich in diesem Artikel aufgezeigt.

Wo begegnet Ihnen noch der Begriff der »Komplexität«, obwohl die Situation so gar nicht komplex ist? Ich freue mich auf Ihre Nachrichten.

  1. Inspiriert durch Faschingbauer, M. (2017). Effectuation: Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln. (3. aktualisierte und erweiterte Auflage). Schäffer-Poeschel Verlag.

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