1. Die Emanzipation vom Arbeitstrott
Wir verplempern unsere Lebenszeit mit sinnlosen Copy-Paste-Aktivitäten. Der Beamte im Bürgerbüro tippt Formulare ab. Dozenten und Berater kopieren PowerPoints zusammen. Projektmanager kopieren Bugs nach Excel. Mindestens 40 lange Stunden pro Woche, die uns niemand dankt.
Die digitale Fließbandarbeit erkauft Produktivität auf Kosten des geistigen Wohlergehens.
- Wer will den ganzen Tag im Neonlicht hocken, dem Klackern der Tastaturen lauschen, miserablen Kaffee hinunterwürgen und narzisstische Manager aushalten?
- Wollen wir mehr als 3 Wochen Urlaub machen?
- Wollen wir heute leben oder im gebrechlichen Alter?
- Wollen wir ein Handwerk meistern, unsere Kinder aufwachsen sehen, gebräunt sein, in Rom Kaffee trinken?
- Gemeinhin: frei sein?
Ferriss nutzt genau diese Ängste und Hoffnungen von Millionen von Menschen aus. Er resoniert mit seinen Lesern. Er spricht ihre Sprache – die ihm Google Analytics offenbarte.
Bullshit-Detektor: Eine Reihe rhetorischer Fragen soll unsere Zustimmung erschleichen.
Ferriss bindet die Leser in eine Heldengeschichte par excellence ein. Ein jeder ist ein Held. Wir unterliegen unserem Feind, dem etablierten Arbeitstrott. Geläutert treffen wir Ferriss, den Weisen, der den Weg zur Freiheit zeigt.
2. Der Weg zur Freiheit
Der Weg zur Freiheit führe über ein Produkt. Nur so könne die eigene Arbeitszeit vom Umsatz entkoppelt – skaliert – werden. Jede Aktivität müsse diesem Ziel dienen. Ich habe in diesem Kapitel die Meilensteine zusammengefasst.
2.1. Das 1x1 der Arbeitsmethodik
Zunächst gilt es die üblichen Klischees über Zeitmanagement und Selbsthilfe zu meistern, wie
- Baue Stärken aus [1: 47, 68]
- Packe mutig zu [1: 45-47, 56, 66, 68, 79]
- Priorisiere, fokussiere, 80-20-Regel [1: 32ff, 46, 96, 100f, 102, 112, 114, 152, 267, 292]
- Kaufe Qualität [1: 34, 48]
- Meide destruktive Menschen [1: 32]
- Erstelle To-Do-Listen [1: 128]
- Delegiere Arbeit[1: 32, 152-154]
- Reduziere digitale Ablenkungen [1: 104ff, 111]
- Kontrolliere den Cashflow [1: 49]
Allesamt praktikabel. Normale Arbeitsmethodik.
2.2. Norde die Kunden ein
Was frisst mehr Lebenszeit als anspruchsvolle Kunden? Ferriss schreibt ihnen die Rolle der passiven Konsumenten zu. Sonderwünsche? Kunden entfernen! Anrufe? Verschwendung! Mails? Autoreply! [1: 122ff]. Das impliziert:
Die Produkte müssen einfach sein und möglichst keinen Kundenkontakt erfordern. Autos, Software, Messtechnik und andere komplexe Produkte sowie Dienstleitungen sind eher ungeeignet.
Funktioniert das? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Theoretisch kann die Konkurrenz einfache Produkte leicht kopieren. Einfachheit bedeutet aber auch Spezialisierung, die den Kundennutzen und Produktivität erheblich steigern kann. Was Ferriss von Kundennutzen hält, zeigt seine Wunderwaffe.
2.3. Scharlatangeschäft & Junk-Books
Ferriss' eigentliche Wunderwaffe ist der Expertenstatus. »Expert status can be created in less than four weeks if you understand basic credibility indicators«, so Ferriss. Die Grundidee: Experte ist, wer für ein Thema relativ mehr weiß als sein Kunde.
Das Rezept: Lies ein paar Bücher zu einem Thema und/oder besuche Seminare. Kopiere ein Junk-Book und zugehörige Fachartikel mit den richtigen Schlagworten (aus Google Analytics) zusammen. Biete passende Seminare an. Nimm die auf Video auf. Biete alles Online an. Viola! Man ist im skalierten Geschäft. Man kann zwar nichts, aber darum geht’s auch nicht.
Die Scharlatane erschleichen sich einen Vorteil auf Kosten der Gesellschaft. Wir tragen das Risiko, gefährlichem Halbwissen aufzusitzen. Ausführlich im Artikel über Allmendücher.
Korrekt aber ist:
Der Expertenstatus erleichtert den Konkurrenzkampf auf umkämpften Märkten.[2]
2.4. Lagere alles aus
Das einfache Onlinegeschäft können nun »virtuelle Assistenten« übernehmen. Die wohnen regelmäßig in Indien, auf den Philippinen oder in Vietnam. Die pflegen den Online-Shop, übernehmen das Marketing und kopieren weitere Junk-Books zusammen. Für 5$ pro Stunde. [1: 168-171] Dass die Ghostwriter noch weniger Ahnung haben: irrelevant. Ergänzend: Demnächst kann das eine KI machen. Bis dahin finden wir die Assistenten auf Upwork & Co.
Wenn das läuft, kommt der Coup de Grâce: Man engagiere einen »Manager«, einen »domestic outsourcer«. Denken Sie aber nicht an eine Führungskraft. Gemeint ist ein Kontrolletti, der die Mitarbeiter aus Übersee antreibt und ersetzt, wenn sie nicht spuren.
Geschafft! Wir sind frei! Wir gehören zu den Wenigen! Die Vielen machen die Arbeit für Hungerlöhne. Und wir sehen die nicht. Wie hören die nicht. Wir kennen die nicht. Unmoralisch, sagen Sie? Das mache schließlich jeder namhafte Konzern. [1: 115ff] Außerdem hätten die so niedrige Lebenshaltungskosten, dass die mit 5$ gut leben könnten. Am Ende zähle doch nur, ob wir mit uns selbst im Reinen wären.[1: 321]
Ferriss ist aber insgesamt sehr konsistent:
Da die Aufgaben einfach sind und der Kundenkontakt minimal, können Personen ohne besondere Fachexpertise das Geschäft übernehmen.
2.5. Bleib liquide
Wie viel muss man eigentlich verdienen? Liquide sein, reiche:[1: 49]
Umsatz – Kosten = 0
Neben Billiglöhner und Steuerparadiese könnten wir die privaten Kosten als Stellschraube nutzen. Rio oder Panama anstatt München, Wien oder Zürich. Ist die Lebensqualität vergleichbar? Ich bezweifle es. Höhere Lebensqualität kostet Geld.
Quantitativ gesehen: Was machen bei Behandlungen, die die Krankenkassen nicht erstatten? Wovon im Alter leben? Wie schlechte Geschäftsperioden überstehen?
Vernünftig ist, neben Liquidität auch den langfristigen Erfolg zu sichern:
Umsatz - Kosten - Rückstellungen ≫ 0
Dann wird es mit vielen Geschäftsmodellen aber eng. Das zeigt uns eindrucksvoll die Corona-Krise. Trotz geringer Fixkosten beantragen viele Coaches und Berater die Staatshilfe.
3. Marketinglügen ermöglichen die 4 Stundenwoche
Das Geschäft ist lukrativ und wird gemanagt. Ein Wermutstropfen bleibt: die 4 Stundenwoche ist noch unerreicht. Macht nichts. Fakten lassen sich korrigieren und beschönigen.
3.1. Arbeit ist, wenn es nervt
Die größte Lüge ist, wie Ferriss »Arbeit« definiert: Arbeit wäre alles, was sich aufs Geschäft beziehe und keinen Spaß mache. [1: 32-34] Ja, unter der Prämisse arbeite ich 10h pro Monat, die ich für Staatsbürokratie benötige. Ich Glücklicher!
Real arbeitet Ferriss viel mehr. Teilweise 7 Tage die Woche, wie Personen beteuern, die ihn persönlich kennen.[3]
3.2. Vier Wochenstunden - aber wann?
Angenommen die 4 Stundenwoche ist möglich, dann sieht das z. B. so aus:
Der Trick liegt auf der Hand:
Ferriss beschreibt nur die Abschöpfphase. Der reale Aufwand bezieht den Aufbau des Geschäfts mit ein.
Das sieht schon anders aus:
Übrigens dürfen Sie frei wählen, wie sie die Zeit-Achse skalieren. Tage, Wochen oder Monate? Im Ferriss-Sprech wären es Tage.
3.3. Das Geschäft weiterentwickeln
Ferriss vermittelt den Eindruck, dass man ein Geschäft einmal anschiebt und es dann von allein läuft. Das ist offenkundiger Unsinn. Lukrative Märkte lockt die Konkurrenz an. Vor allem Beratung und Coaching ist von wechselnden Moden getrieben. Man muss das Geschäft entwickeln. Das gilt umso mehr, wenn man keine reale Expertise vorweisen kann. Das heißt:
Die einfachen Geschäfte nach Ferriss-Stil erfordern regelmäßige Weiterentwicklung.
3.4. Warum 4 Wochenstunden?
Warum proklamiert Ferriss 4 Wochenstunden? Warum nicht 2, 5 oder 10? Es gibt kein gescheites Kriterium für diese Zahl, außer:
Ein halber Arbeitstag pro Woche klingt toll. Ferriss bedient den Wunsch seiner Zielgruppe.
4. Wie gut funktioniert der Ansatz?
Wie in den meisten Ratgebern, fehlt in Die 4-Stunden-Woche ein Nachweis der Wirksamkeit. Zugegeben, das ist schwierig.
4.1. Rezensionen auf Amazon
Bei den positiven Rezensionen auf Amazon fällt auf, dass die Autoren sich in ihrer eigenen Lebenseinstellung bestätigt fühlen (Confirmation Bias[4]). Das honorieren sie mit einer positiven Rezension. Etwas zu mögen, sagt aber nichts darüber aus, ob es funktioniert. Und wer gibt schon zu, nach Lehrbuch gearbeitet zu haben und gescheitert zu sein?
Scheitern taucht in Statistiken und Anekdoten über den Erfolg meistens nicht auf (Survivorship Bias[5]).
4.2. Empirischer Nachweis
Bei über 1 Millionen verkauften Büchern und wer weiß wie vielen gelesenen, müsste es doch Berichte geben, die die Wirksamkeit nachweisen. Wo sind die?
Bei meiner Recherche fand ich YouTuber und Blogger, die von sich behaupten, die 4 Stundenwoche erreicht zu haben. Noch mehr lobten das Ziel (Confirmation Bias[4]). Keiner gab belastbare Daten an. Aber jeder bewarb gleichzeitig das eigene Coaching und Seminar. Glaubwürdig ist das nicht.
Der Bundesanzeiger half auch nicht, weil sie Kleinunternehmer sind und vermeintlich erfolgreiche Unternehmen ihren Geschäftssitz in Steueroasen hatten. Deren Jahresabschlüsse konnte ich nicht ermitteln oder ich verstand sie nicht.
Eine empirische, quantitative Aussage ist mir mangels Datenqualität nicht gelungen.
4.3. Qualitative Einschätzung
Qualitativ betrachtet, bewirkt Ferriss‘ Ansatz eine klare Positionierung am Markt. Wir würden uns auf eine Nische und eine enge Zielgruppe fokussieren.
Spezialisierung funktioniert. Sie bewirkt eine klare Positionierung sowie Vorteile hinsichtlich Produktivität, Effizienz und Lernen.[2]
Einen Haken hat die Sache: Spezialisten, wie ich sie meine, sind Experten, die ihr Fach beherrschen. Sie haben Wissen und Können, das sie sich über viele Jahre der praktischen Arbeit angeeignet haben.[6]
Wie steht es aber um Scharlatane, die sich vier Wochen mit einem Thema befasst haben, geschweige denn Ghostwriter beschäftigen und auch den Kundenkontakt meiden? Die fliegen entweder auf oder sind ständig auf der Suche nach Neukunden. Ein solches Geschäftsmodell ist kurzfristig ausgelegt und es muss häufiger erneuert werden. Ob dafür 4 Stundenwochen ausreichen?
5. Fazit
Das Fazit fällt zweigeteilt aus. Ja, der Ansatz in Die 4-Stunden-Woche kann zu einem einfachen Geschäft führen, das positiven Cashflow generiert. Viel spricht dafür, dass es sich bereits mittelfristig nicht bewährt. Berücksichtigt man Ferriss‘ Zielgruppe ist Die 4-Stunden-Woche eine Anleitung zum Online Scharlatan-Geschäft. Bemerkenswert ist, dass Ferriss mit dem Buch genau diese Regeln befolgt und vormacht, wie es geht. Sein Genius liegt im Marketing.
Nein, die 4 Stundenwoche funktioniert so nicht. Sie ist ein Köder. Faktisch und praktisch lügt Ferriss diesbezüglich. Das beurteile jeder für sich. Fakt ist: Die Gesellschaft trägt das Risiko, auf Scharlatane und Junk-Books hereinzufallen. Zum Glück immunisiert ein nüchterner Blick. Dazu diente dieser Artikel.
Fußnoten / Quellen / Literatur
- ↑Vgl. Ferriss, T. (2014). Die 4-Stunden-Woche: mehr Zeit, mehr Geld, mehr Leben. Ungekürzte 11. Auflage. München: Ullstein
- ↑Vgl. Friedrich, K. (2007). Erfolgreich durch Spezialisierung. Kompetenz entwickeln, Kerngeschäft ausbauen, Konkurrenz überholen.(2., aktualisierte und überarbeitete Auflage). Heidelberg: Redline Wirtschaft.
- ↑Vgl. o.V. (2009). 5 Time management tricks I learned from years of hating Tim Ferriss. Im Interet (Stand: 08.08.2020): https://blog.penelopetrunk.com/2009/01/08/5-time-management-tricks-i-learned-from-years-of-hating-tim-ferriss/
- ↑Vgl. Wikipedia (2020). Bestätigungsfehler. Im Interet (Stand: 08.08.2020): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Best%C3%A4tigungsfehler&oldid=196637334
- ↑Vgl. Wikipedia (2020). Survivorship Bias. Im Interet (Stand: 08.08.2020): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Survivorship_Bias&oldid=201745396
- ↑Vgl. Litschke (2020). Wie Allmendebücher Komplexität treiben. Im Interet (Stand: 08.08.2020): https://www.nicolitschke.com/allmendebuecher-treiben-komplexit%C3%A4t