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Entlarvt: Unsinn der 1% besser

»1 % besser am Tag. Stell dir vor, wo du nach einem Jahr stehst! Nur 1 %! Klingt das machbar?«. Derartige Aufforderungen zum kontinuierlichen Lernen sind anscheinend beliebt. Wir finden Sie genauso auf Facebook, YouTube, Xing und LinkedIn wie auch in Seminaren und Büchern für Erfolg, Finanzen oder Persönlichkeitsentwicklung. In diesem Artikel zeige ich den Unsinn dieser Behauptung auf, wie Lernfortschritt realistischer abläuft und was es für unseren Alltag bedeutet.

These: 1% besser und exponentielles Lernen

Das Versprechen der 1 % Regel zeigt folgende Werbung:


Auf die Rechenfehler im Video gehe ich nicht explizit ein. Da ich das Modell verwerfe, lohnt der Aufwand nicht. Wichtiger: In dem erwähnten Buch von James Clear finden wir das gleiche Versprechen:[1]

Expontentieller Zusammenhang zwischen 1% Regel und Output
Die 1% Regel verspricht expontentiell wachsenden Output (Quelle: James Clar (2018); Hervorhebung von Nico Litschke)

Die Macht des exponentiellen Wachstums; der Zins auf den reinvestierten Zins. Aber halt! Zumindest Investoren und Trader wittern Betrug. 1 % am Tag. WTF?! Anscheinend weiß, der Autor nicht, was ein solch exponentielles Wachstum bedeuten würde. Einfachste Zinsrechnung verdeutlicht das. Könnten wir 1 Euro mit 1 % pro Tag verzinsen, hätten wir nach 10 Jahren:

1€ x 1,01365x10 = 5,93x1015 €= 5.929.448 Milliarden = 5,93 Millionen Milliarden €.

Dabei schreibt Clark von »nur« einem 1 % täglich. Es geht also mehr. Wie sich unsere Ergebnisse angeblich für verschiedene Prozentsätze vervielfachen, zeigt folgende Tabelle:

Wachstum
pro Tag
Vielfache des Outputs
nach 1 Jahr
Vielfache des Outputs
nach 10 Jahren
10 % 1,3x1015 1,2x10151

5 %

5,4x107 2,2x1077

4 %

1,6x106 1,5x1062
3 % 48.482 7,2x1046
2 % 1.377 2,5x1031
1 % 37,8 5,9x1015
0,5 % 6,2 8,1x107
0,1 % 1,4 38,4
0,01 % 1,04 1,4

Tabelle: Output nach 1 Jahr und nach 10 Jahren für verschiedene Wachstumsraten pro Tag. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die eigentliche Ironie ist, dass ich diesen Unsinn in der Vergangenheit auch bei Finanzguru Bodo Schäfer oder bei Jürgen Höller fand.[2] Die Gurus haben anscheinend nicht durchdrungen, was sie predigen. Weist man sie auf den Denkfehler hin, kommt die passiv-aggressive Gegenargumentation: »Zugegeben, 1 % am Tag ist optimistisch. 0,1 % aber! Ist das nicht für JEDEN machbar?«. Aha, zugegeben: Wer will schon hören, dass das Denkmodell hinkt und die falschen Erwartungen schürt, wenn es sich gut verkauft? Schauen wir trotzdem auf ein realistischeres Denkmodell.

Denkmodell: Üben hält uns auf dem Plateau

Das trefflichste Denkmodell, wie sich Kompetenz (d.h. Wissen gepaart mit Können) entwickelt, habe ich in George Leonards kleinem Büchlein »Mastery« entdeckt:[3]

»… your progress towards mastery will almost always take on a characteristic rhythm that looks something like this:«

Lernen verläuft in Plateaus mit ungewissen Sprunghöhen und ungewisser Plateaulänge
Lernfortschritt in Kompetenzplateaus nach Leonards, G. (1992): S. 14.

Unsere Kompetenzentwicklung verläuft weder linear noch exponentiell, sondern in Plateaus.

Routinen und Üben bewirken in erster Linie, dass wir nicht vom erreichten Plateau fallen.

Das zeigt auch die alltägliche Erfahrung, z.B.:

  • Mindestens 2x täglich Zähneputzen und Zahnseide wirkt Zahnerkrankungen entgegen.
  • Eine beständig gesunde Ernährung wirkt Übergewicht und Krankheit entgegen.
  • Regelmäßiger Sport wirkt der Performance- oder Krafteinbuße entgegen.
  • Regelmäßiges Nutzen einer Fremd-/ Programmiersprache wirkt dem Vergessen entgegen.
  • Regelmäßiges Klavierspielen verhindert, dass das Gefühl für das Instrument entgleitet.
  • etc.

Nichts davon ließe sich endlos steigern. Was ist die Steigerung von nicht erkrankten und ästhetischen Zähnen? Illumination? Unsichtbarkeit wiederum dürfte eher auf Zahnausfall hindeuten. Der Grenznutzen zusätzlicher Verbesserungen nimmt ab. Eine Binsenweisheit der Ökonomie.

Beständigkeit beim Üben oder in der Routine kann dann zu einem merklichen oder messbaren Leistungssprung auf das nächste Plateau führen. Gehirn und Körper haben sich angepasst. Von dort aus müssen wir die Routine / Übung fortsetzen, um wiederum nicht von diesem Plateau zu fallen.[3]

Ich denke dies gilt auch umgekehrt ins Negative: Wenn wir an den Weihnachtstagen schlemmen und Alkohol trinken, macht es die meisten Leute nicht sofort krank. Halten wir die schlechte Routine täglich aufrecht, nehmen wir die Verschlechterung in Schüben wahr.

Niemand kennt die Länge der Plateaus und die Höhe der Sprünge. Sie sind individuell; erwartbar aber unbekannt. Anfänger werden erfahrungsgemäß schnelle Fortschritte erzielen. Man hat den Eindruck eines linearen / exponentiellen Fortschritts. Tatsächlich aber sind das vergleichsweise hohe und schnell aufeinanderfolgende Plateausprünge. Hat man einmal ein gewisses Plateau erreicht, zieht es sich wie Kaugummi. Manchmal über Jahre hinweg. Künstler und Sportler jeder Profession kennen das. Disziplin und Kontinuität schlägt Motivation.

Dabei helfen Routinen. Routinen, gute wie schlechte, benötigen wenig Aktivierungsenergie. Es sind Abläufe, die in unser Unterbewusstsein eingebrannt sind und die wir deshalb mühelos ausführen. Meisterschaft in einer Profession korreliert mit entsprechenden Routinen.[4][5] Das ist »unbewusste Kompetenz«. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Negation von Meisterschaft; nur habe ich dafür keinen guten Begriff gefunden. »Meister im Junkfood-Verzehr« klingt etwas schräg. Bei den Routinen aber vermischt Clark zwei unterschiedliche Dinge.

Automatisierung ≠ Routine

Laut Clark sollten wir Routinen auslagern so gut wie möglich, etwa einen Wertpapiersparplan einrichten. Das halte auch ich für empfehlenswert. Es ist aber nicht mit menschlicher Routine zu verwechseln. Wer heute einen SPY ETF kauft, der tut das ausgehend von einem gewissen Kompetenzplateau. Wenn er sich nicht mehr anderweitig mit dieser Materie beschäftigt, stellt er das Üben ein. Das wirft ihn früher oder später vom Kompetenzplateau. Natürlich läuft der Wertpapiersparplan weiter, d.h. der Output des Plateaus bleibt bestehen.

Automatisierung kann den Output eines Kompetenzplateaus einfrieren und gleichzeitig das individuelle Lernen in dieser Sache stoppen.

Ein weiteres Beispiel zur Verdeutlichung: Für den obligatorischen Monatsabschluss nutze ich eine eigens erstellte Checkliste: Was muss wo wie gebucht werden? Welche Behörde muss ich bei welchem Ereignis wie informieren? Was muss ich im Elster anklicken? Etc. Um die Checkliste zu erstellen, musste ich zuerst ein gewisses Kompetenzplateau erreichen. Mit Fertigstellung der Checkliste habe ich den Output des Plateaus eingefroren. Dann fiel ich zufrieden runter. Bürokratie und Formulare öden mich dramatisch an. Fakt ist: Durch die Automatisierung entwickle ich mich nicht weiter bezüglich der bürokratischen Auflagen. In diesem Fall baue ich trotz Automatisierung keine »Rendite« auf. Stattdessen werde ich schlicht nicht von den Behörden sanktioniert, weil ich falsche Angaben oder Zahlungen vermeide.

Automatisierung von Abläufen erzeugt nicht automatisch einen Zinseszinseffekt.

In der Praxis

Ich bin ausgegangen von den Behauptungen der Gurus. Sie dienten mir nur als Aufhänger. Die Vorstellung eines linearen/exponentiellen Lernfortschritts ist weitverbreitet.

Beispiel Weiterbildungen: Viele Vorgesetzte investieren in Seminare, weil sie sich eine Leistungssteigerung erhoffen. Sie erwarten einen linearen/exponentiellen Kompetenzverlauf zwischen vor und nach der Weiterbildung. Eigentlich ist das nur eine weitere Übung unter vielen, die gegebenenfalls gar keinen Leistungssprung erzeugt. In der Regel kommt es zu einem Zeitpunkt zum Leistungssprung, der nicht direkt mit dem Seminar verknüpft werden kann. Dieser Umstand macht aber nicht das Seminar überflüssig. Es ist eine Übung.

Das Plateau-Modell enttarnt auch so manche Ausrede von Angestellten, wenn sie suggerieren: Es würde alles viel besser laufen, hätte die geizige Vorgesetzte nur die Schulung bezahlt. Unsinn. Die unzureichende Leistung spiegelt das aktuelle (In-) Kompetenzplateau wider. Es wäre ein großer Zufall, wenn eine Schulung den Kompetenzsprung auslöst. Solche Suggestionen sind eher Ausdruck mangelnder Eigenverantwortung für das eigene Plateau.

Beinahe riskant ist eine gängige Praxis mit Rollenbeschreibungen, die da enthalten »Verantwortliche hat X-Schulung bestanden«. Da sichern sich Vorgesetzte, Qualitäter und Berater den Arsch ab. Schulungszertifikate sagen nichts über das tatsächliche Kompetenzplateau aus. Denken Sie nur an Bulimie-Lernen: Fakten reinschaufeln und hinter dem Prüfungsraum ist es längst vergessen.

Definitiv riskant sehe ich das Auslagern der Kompetenzverantwortung an, etwa an Berater, Coaches oder Trainer.

Vertraue niemals Leuten die Verantwortung der Kompetenzentwicklung an, die dadurch nicht explizit ein (langfristiges) Risiko eingehen!

So haben Berater, Coaches oder MBA-Studiengänge einen starken Anreiz theoretisch-logischen Beratermüll zu verbreiten, weil es zu ihrem Geschäftsmodell passt.[6] Ob es in der Praxis funktioniert, ist zweitrangig.

Fürwahr, diese Auffassung von Kompetenzfortschritt und Üben ist unbequem. Aber nur scheinbar. Wer einen linearen/exponentiellen Zusammenhang erwartet, ist enttäuscht, wenn er nicht eintritt. Das führt zu Konflikten und Streit. Vielleicht gibt man jemanden sogar für etwas die Schuld, das er faktisch nicht beeinflussen konnte. Und: Wie viele brechen etwas ab, weil sie keinen Fortschritt erkennen können und glauben, es müsse linear weitergehen? Es sind die Erwartungen, die unsere Handlungen bestimmen. Dabei gilt schlicht:

Strebe permanent nach Meisterschaft. Übe, damit du nicht schlechter wirst.

Fazit

Die Aufforderung, sich täglich um 1 % zu verbessern, beruht auf einem antiquierten Lernverständnis. Es unterstellt einen linearen/exponentiellen Zusammenhang zwischen Üben und Fortschritt. Der reale Kompetenzfortschritt verläuft in erwartbaren aber unbestimmten Sprüngen auf höhere Kompetenzplateaus. Üben und Routinen verhindern in erster Linie das Herunterfallen vom Plateau.

P.S. Wie passen die Kompetenzplateaus mit Superkompensation zusammen?

Superkompensation finden wir in den Sportwissenschaften. Sie besagt: Nach Belastung führt der Körper Reparaturmaßnahmen durch, die zu einer Überanpassung des Muskels führen. Die Leistungsfähigkeit steigt. Das Modell reduziert sich aber auf den Anstieg durch Training; der Abstieg ist nicht enthalten. Außerdem ist die Superkompensation auf wenige, einseitige Parameter reduziert. Beim Tanzen, Schreiben, Klavierspielen, Fußballspielen, Programmieren, Ernährung und anderen komplexen Aktivitäten passt das Modell der Superkompensation meiner Meinung nach nicht.

Anmerkungen & Quellen

 

Autoren: James Clear

Verlag: Avery (Penguin Random House)
ISBN: 978-0735211308

Autoren: George Leonard

Verlag: Plume
ISBN: 978-0452267565


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  1. Clear, J. (2018). Atomic habits: Tiny changes, Rremarkable Results: An Easy & Proven Way to Build Good Habits & Break Bad Ones. New York: Avery an imprint of Penguin Random House.
  2. Die Quellen habe ich leider nicht mehr gefunden.
  3. Leonard, G. (1992). Mastery: The Keys to Success and Long-Term Fulfillment. New York: Plume.
  4. Vgl. Baumeister, R., & Tierney, J. (2014). Die Macht der Disziplin,. Wie wir unseren Willen trainieren können. (1 ed.). München: Goldmann.
  5. Vgl. Rock, D. (2007). Quiet Leadership. Six Steps to Transforming Performance at Work. New York: HarperCollins Publishers.
  6. Vgl. Taleb, N. N. (2018). Skin in the Game. Das Risiko und sein Preis. (1 ed.). München: Penguin.

Abbildungen

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